Die angeführten Beispiele sind der Kategorie "unreiner Reim" zuzuordnen.1) Der Begriff ist nicht unbedingt pejorativ gemeint, signalisiert aber auf jeden Fall eine gewisse Abweichung von reimtechnischen Hochnormen.
2) Ein berühmtes Beispiel für unreinen Reim ist ein/der Gretchenmonolog bei Goethe:Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!Leicht frankforterisch-dialektal gesprochenes "neiche" lässt sich hier als Erklärung und eine gewisse Lizenz/Dispens von der Hochnorm anführen. Wie überhaupt im zeitlichen Vorfeld der hochdeutschen Dichtung solche Reime gut zu finden sind. Eben weil es erst Tendenzen zu einer lautlichen (Hoch-)Normierung gibt.
3) Diskrepanz von Länge und Kürze findet sich auch in Höhenkammliteratur zu Genüge, wenn auch immer noch als Ausnahme erkennbar:Eichendorff: Nachts
Ich wandre durch die stille Nacht,
Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.4) Diskrepanz von betont und unbetont in der gleichen Silbe, Inkongruenz zwischen metrischem Akzent und prosaischem Wortakzent also, gehört hier auch her.Schiller setzt (Spaziergang)- wahrscheinlich sehr bewusst - einen solchen Aufmerksamkeitsakzent in einem daktylusorientierten Poem. Für Latinistas und Distichongenießer von einigem Interesse...
Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit 1 erwachet,
Theilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz.
(.......)
Sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,
Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.
Körper und Stimme leiht die Schrift den stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.
Da zerrinnt von dem wundernden Blick der Nebel des Wahnes,
Und die Gebilde der Nacht weichen dem tagenden Licht.
Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriss' er
Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Scham!
Freiheit 2 ruft die Vernunft, Freiheit3 die wilde Begierde,
Von der heil'gen Natur ringen sie lüstern sich los.
Ach, da reißen im Sturm die Anker, die an dem Ufer
Warnend ihn hielten, ihn faßt mächtig der fluthende Strom;
Das Lexem Freiheit ist in 1 und 2 mit seiner Prosabetonung in den Hexameter eingepflegt.
In der Position 3 würde bei gleicher Betonung ein Hebungsprall entstehen. Der ist aber hexametertechnisch
sehr problematisch. Also müßte man bei 3 die zweite Silbe betonen.
In der fachlichen Analyse dieser Passage sind drei Ansätze zu finden:
a) Nachahmung der antiken Metrik, sie ist quantitierend:
Frei und
heit sind beide gleich lang. Also funzt es dann, klassisch gesehen.
b) Semantischer Hinweis im metrischen Subtext: Freiheit der Vernunft ist das eine, eine "richtige"Freiheit. Die Frei
heit der (revolutionären) wilden Begierde ist was anderes, wohl auch eine Verdrehung der "wahren" Freiheit.
c) Ebenfalls möglich: Eine schwebende Betonung, in der das Wort auf jeden Fall einen Aufmerksamkeitsakzent erhält und so einen Echoraum beim Rezipienten öffnet...
5) All diese Überlegungen zur Reinheit oder Unreinheit sind auch deswegen nicht unbedingt pejorativ zu nutzen, weil es eben unterschiedliche Kategorien/Normen lyrischen Sprechens gibt: die silbenzählende, die hebungszählende, die musikalisch quantitierende, die bloße Reimbindung ... die Kombination aus hebungszählender und reimbindungsorientierter Lyrik....
6) Markus03 etwa schwabuliert in der prosaisch-lyrisch-volkstümelnden Tradition und fertigt immer wieder - auf persönlich native Defizite hinweisend - "freie Knittelverse". Er nutzt die bloße Reimbindung und verzichtet auf flankierende metrische Regularitäten:Auch lasst euch gar nicht diß betrüben
Wenn der schreckliche grimmende brüllende Löw wird einher schieben.
Andreas Gryphius, Absurda Comica oder Herr Peter Squenz
Zytho, stell die Pulle - ächz, die Marmeladadinger - kalt!
Zytho, stell die Flascherl´n kaltMarkus03 und Sinemetu, Brakbekl auch kommen bald.