Liebe Lateinfreunde,
eine Frage vorweg: Gibt es Lehrwerke oder Grammatiken, die sich mit grammatikalischen Eigenheiten der Dichtersprache beschäftigen?
Der RHH deckt ja eher nur klassisches Prosa ab ...
Konkret geht es mir um den Irrealis (vor allem der Vergangenheit) in der Dichtersprache.
Ich habe beim Lesen von Ovids Tristien bemerkt, dass der gerne mit einem Futur-Partizip und einer Form von esse in der Vergangenheit gebildet wird.
In den Tristien 1.7. schreibt Ovid ein Vorwort, das den Metamorphosen vorangestellt werden sollte, die nach seiner eigenen Aussage aufgrund seiner Verbannung nicht den letzten Schliff erhalten konnten:
quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram. (Verse 39-40)
~ Was auch immer das unausgereifte Gedicht in diesen Büchern an Fehlern haben wird,
das hätte ich ausgebessert, wenn es mir erlaubt gewesen wäre
Im Gedicht davor (1.6.) schreibt Ovid an seine Frau und dankt ihr, dass sie zu Hause sein Vermögen behütet:
sic mea nescioquis, rebus male fidus acerbis,
in bona venturus, si paterere, fuit.
~ So wäre auch irgendjemand, der in schlechten Zeiten übel gesinnt ist,
an/auf meine Güter gekommen, wenn du es zugelassen hättest.
Im ersten Beispiel steht die Periphrase mit dem Imperfekt, im zweiten Beispiel mit dem Perfekt von esse.
Gibt es einen Bedeutungs- oder Verwendungsunterschied zwischen dem Imperfekt und dem Perfekt in solchen Konstruktionen?
Gefühlt findet man das Imperfekt häufiger - ich habe aber keine echten Zahl, um mein Gefühl zu belegen.
Metrisch kann man den Unterschied gerade anhand dieser Beispiel ja sicher nicht erklären. Statt "paterere fuit" hätte ja beispielsweise auch locker "patereris erat" stehen können.
Eine weitere Frage: Schränkt die Verwendung des Indikativs in dieser Periphrase die Irrealität der Aussage ein?
Ich meine damit folgendes: Mir ist noch ein Beispiel aus der Aeneis im Kopf, als Laokoon vor dem hölzernen Pferd warnt (Buch 2). Er wirft einen Speer auf das Pferd, der darin stecken bleibt. Leider erfolglos - dem Priester wird kein Glauben geschenkt und der griechische Hinterhalt wird nicht aufgedeckt. Vergil lässt Aeneas dazu sagen:
et si fata deum, si mens non laeva fuisset,
contigerat ferro Argolicas foedare latebras
Troiaque nunc staret, Primiaque arx alta maneres!
(Aen. 2, 54-56)
~ ... und wenn der Götter Geschick, wenn der Verstand nicht linkisch/ungünstig/töricht gewesen wäre,
dann hätte er dazu angetrieben, die griechischen Verstecke durch das Eisen zu zerstören
und Troia würde auch jetzt noch stehen, und du, Priamus' hohe Burg, wärst noch erhalten
Hier steht der Indikativ plusquamperfekt (impulerat) mitten im Irrealis. In einem Kommentar habe ich mal gelesen, das sei bewusst so gewählt worden, weil sich damit quasi auch grammatikalisch widerspiegelt, wie kurz davor Laokoon war, die Griechen zu entlarven. De facto hatte er seine Leute ja angetrieben, etwas zu unternehmen, nur ergab sich daraus keine Wirkung.
Schwingt so etwas auch im oberen Beispiel mit - das also die Handlung schon da war, nur der Effekt fehlte? D.h. dass Ovid schon im Begriff war, sein Werk zu überarbeiten, ihn dann aber das Verbot/ die Verbannung ereilte? Dass da schon jemand dabei war, eine Enteignung Ovids zu bewirken, aber seine Frau es verhinderte?
Oder ist diese Periphrase auch dann möglich, wenn jede Verankerung in der Realität fehlt? Kennt ihr in dem Zusammenhang noch weitere Beispiele?
Mir ist auch noch eine weitere kuriose Verwendung aufgefallen: In Buch 4, Gedicht 8 der Tristien schreibt Ovid über sein voranschreitendes Alter:
nunc erat, ut posito deberem fine laborum
vivere cor nullo sollicitante metu,
(Verse 5-6)
~ Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, dass ich nach Beendigung meiner Mühen
lebte ohne dass irgendeine Furch mein Herz bekümmert
Es geht also darum, dass er es eigentlich verdient hätte, das hohe Alter in Ruhe in Rom verbringen zu können, stattdessen aber die Verbannung am Ende der Welt ertragen muss.
Hier steht erat statt (wie ich erwartet hätte) esset ... der Irrealis der Gegenwart wird also durch ein Imperfekt ausgedrückt. Gibt es auch hierfür Parallelen und Erklärungen?
Die obigen Beispiele sind nur eine Auswahl. Mir geht es also nicht nur um den konkreten Einzelfall. Ich stolpere häufiger über diese Konstruktionen.
Vielen Dank für euer Interesse an der Frage!