Noch einmal zur Stellung der Verneinung

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Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon ille ego qui » Mo 18. Feb 2019, 14:55

Salvete!

Im Zusammenhang mit der Litotes hatten wir hier einen kleinen Disput über Wort- vs. Satznegation und die jeweilige Stellung der Verneinung. Wahrscheinlich hat Tiberis insgesamt schon nicht Unrecht ( :wink: ), wenn er sagt:

Nein, denn die Betonung liegt ganz eindeutig auf den gegensätzlichen Wörtern scholae bzw. vitae. Es muss also definitiv heißen: Non scholae, sed vitae discimus.


Allerdings wollte ich doch folgende Textstelle noch gerne zur Diskussion stellen, die mir gerade zufällig bei der Seneca-Lektüre (De brevitate vitae) aufgefallen ist:

Non est itaque quod quemquam propter canos aut rugas putes diu uixisse: non ille diu uixit, sed diu fuit.


Speziell ist vielleicht in diesem Fall, dass über die Negation hier eine Alternative hergestellt wird, die im Besonderen die F o r m u l i e r u n g eines Sachverhalts betrifft (man könnte (diu) vixit und (diu) fuit jeweils in Anführungszeichen setzen). Dennoch glaube ich, dass dieses Beispiel eher davor warnen sollte, einen Satz wie "Non discimus scholae, sed (discimus) vitae" vorschnell (?) als falsch formuliert einzustufen. Oder was meint ihr?

Bene valete!
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon Tiberis » Mo 18. Feb 2019, 16:57

ille ego qui hat geschrieben:non ille diu uixit, sed diu fuit.

Das widerspricht ja nicht dem, was ich damals geschrieben habe. Hier geht es nämlich um eine Satznegation (Ggs.ille diu vixit - ille diu fuit). Natürlich könnte die Negation auch unmittelbar vor dem Prädikatsverb stehen, aber zur besonderen Betonung des Gegensatzes steht sie hier eben am Satzanfang (vgl. MBS 149,4b).
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon ille ego qui » Mo 18. Feb 2019, 18:24

Salve, Tiberis!

Dann behaupte ich zumindest, dass man - entgegen deiner früher getätigten Einschätzung (so wie ich sie verstanden habe) - den non-scholae-sed-vitae-Satz eben auch durchaus mit einer - in deiner Terminlogie - Satznegation bzw. mit Negation vor dem Prädikat formulieren könnte, ohne dass er sinnlos oder falsch würde.

(Ggs.ille diu vixit - ille diu fuit).


<=> Ggs. vitae discimus - scholae discimus.

Aber ob nun Wortnegation oder Satznegation, in dem oben zitierten Seneca-Satz (non ille ...) liegt doch ein besonderer Fokus auf dem vixit - innerhalb des negierten Bereichs. Ich finde jedenfalls, die Grenze zur Wortnegation ist hier enorm schwer zu ziehen.

Stellen wir mal probehalber die Negation vors "fokussierte" Prädikat.

Ille non fuit, sed vixit diu.

bzw.

Ille diu - non fuit, sed vixit.

Gerade bei der letzten Abfolge würde ich eigentlich enorm stark - und ganz automatisch - von einer Wortnegation ausgehen.


Vale!


P.S.: Ille non diu fuit, sed diu vixit schiene mir auch eine sinnvolle Abfolge - mit "diu ..." als betonter Wortgruppe.
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon Tiberis » Mo 18. Feb 2019, 21:17

salve, optime Christiane !

ille ego qui hat geschrieben:liegt doch ein besonderer Fokus auf dem vixit - innerhalb des negierten Bereichs. Ich finde jedenfalls, die Grenze zur Wortnegation ist hier enorm schwer zu ziehen.


richtig. Eigentlich ist sie beim bloßen Prädikat überhaupt nicht zu ziehen, denn ein Prädikatsverb (z.B. vixit) ist einerseits ein Wort, andererseits, wenn es das Subjekt inkludiert, ein Satz.
In unserem Beispiel Non ille diu vixit, sed diu fuitmuss es sich zwangsläufig um eine Satznegation handeln, da sich die Negation ja auf den Gegensatz diu vixit - diu fuit bezieht und nicht etwa auf ille.

Non discimus scholae, sed (discimus) vitae
Hier liegt die Sache insofern anders, als das Gegensatzpaar aus zwei Substantiven besteht, die -anders als das Prädikatsverb - naturgemäß keine Sätze sein können. Schon aus diesem Grund müsste die Negation unmittelbar vor dem einen dieser Substantive stehen.
So wie du formulierst (s.o.), müsste man non als Satznegation ansehen.
bei MBS 149,4b heißt es: "Ist der ganze Satz verneint, steht die einfache Negation meistens vor dem Prädikat als dem wichtigsten Wort des Satzes. (Sie) kann aber auch (zur besonderen Betonung) an die Spitze des Satzes treten. (..) Nach einer am Satzanfang stehenden Negation stehen häufig Pronomina."
In unserem Beispiel ist zweifellos das Lernen (discimus) ein wichtiges Wort, der Fokus liegt aber auf dem Gegensatz scholae - vitae., und gerade bei Gegensätzen steht die Negation i.d.R. unmittelbar vor dem zu verneinenden Wort (MBS a.a.O. 4a)
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon Prudentius » Di 19. Feb 2019, 18:41

Ihr müht euch ja redlich ab, während ich mit meiner Behauptung, es gäbe keine Wortnegation, unter dem Tisch gelandet bin :) . Ich kann aber zu meiner Entschuldigung anführen, dass ich keine Privatmeinung vorgebrachte habe, sondern die communis opinio, wie sie im Lehrbuch steht; ich kann aber auch zu eurer Entschuldigung anführen, dass zum Missverständnis auch gehört, dass der Missverstehende nicht weiß, dass er missversteht; die Divergenzen bei Satzwahrheit und Negation sind zu groß, man müsste zu weit ausholen ...

Unter Satz verstehe ich "erweitertes Prädikat", und unter "Satznegation" "negiertes Prädikat".
Prädikate haben die Eigenschaft, nominalisiert werden zu können. Aus einem regulären Aussagesatz wird im ACI ein Nominalausdruck. Die Negation kann bei dieser Umwandlung mitgenommen werden, dann wird also, wenn man so will, daraus eine Wortnegation, dann ist aber keine Änderung der Satzwahrheit mehr da, insofern ist es eigentlich keine urspr. Negation mehr.

"Hier liegt die Sache insofern anders, als das Gegensatzpaar aus zwei Substantiven besteht, die -anders als das Prädikatsverb - naturgemäß keine Sätze sein können".

Ich würde das Gegensatzpaar aus zwei erweiterten Prädikaten bestehen lassen "vitae discimus" vs. "scholae discimus", dann haben wir also Satznegation.

Kleine Anmerkung: "Hier liegt die Sache insofern anders, als das Gegensatzpaar aus zwei Substantiven besteht, die -anders als das Prädikatsverb - naturgemäß keine Sätze sein können": Es gibt keine Substantive im Satz, auch keine Adjektive; es gibt im Satz nur Satzteile, wie Dativobjekte. Wort und Satz liegen auf unterschiedichenen Ebenen.
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon Tiberis » Mi 20. Feb 2019, 00:27

Prudentius hat geschrieben: Es gibt keine Substantive im Satz, auch keine Adjektive; es gibt im Satz nur Satzteile, wie Dativobjekte

oh, und ich dachte doch immer, ein Satz bestehe zunächst einmal aus Wörtern, die in weiterer Folge hinsichtlich Art und Funktion definiert werden. o me temerarium, qui grammaticam tuam logico-electronicam, quae dicitur, plane neglexerim! :lol:
Prudentius hat geschrieben:. Ich kann aber zu meiner Entschuldigung anführen, dass ich keine Privatmeinung vorgebrachte habe, sondern die communis opinio, wie sie im Lehrbuch steht;

wie bitte? Sind denn Werke wie MBS oder Kühner-Stegmann keine Lehrbücher? Steht dort etwa nichts von Wortnegationen? Von welcher communis opinio redest du denn da??
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Re: Noch einmal zur Stellung der Verneinung

Beitragvon Prudentius » Mi 20. Feb 2019, 09:38

Tiberis hat geschrieben: ... oh, und ich dachte doch immer, ein Satz bestehe zunächst einmal aus Wörtern, die in weiterer Folge hinsichtlich Art und Funktion definiert werden.


Tiberis, du hast ganz recht, aber du musst die beiden Richtungen unterscheiden, in denen wir auf den Satz zugehen; du beschreibst den Lernvorgang, sozusagen von unten her auf den Satz zugehend, induktiv; die Schülerperspektive, wie er in der Klausur vorgeht: eine Wortreihe, ein Chaos oder Wortsalat; aber wir gehen im Profi-Modus heran, deduktiv; vom regierenden Prädikat gehen die Verbindungslinien zu Satzteilen, niemals zu Wörtern; bei den Wörtern kommen wir est an, wenn wir die Satzteile zerlegen, wie "substantivisches Attribut"; das wollte ich sagen.

o me temerarium ...


Nimm es nicht so tragisch! :)
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