Tiberis hat geschrieben:Aber noch einmal zurück zum Oxfordtext:
et pariter fluctus ferit atque silientia longe
aequora, nec saevis victa madescit aquis.
ich meine, gerade die Wörter "pariter" und "aequora" sprechen dafür, dass "silentia" stehen muss und nicht (as)silientia bzw. salientia.
Ich verstehe wie gesagt gut, warum du hier
silentia lesen würdest, das hast du ja oben auch überzeugend beschrieben. Ich bin aber nicht so überzeugt davon, dass es auch gleich die einzig sinnvolle Lesart sein
muss. Man könnte ja folgendes entgegenhalten:
erstens: pariter - atque (ac) bedeutet "gleichermaßen - wie", "ebenso - wie" u.dgl., d.h., die damit verbundenen Wörter können wohl kaum dasselbe bedeuten, sondern sind einander i.d.R. gegensätzlich. Es macht wenig sinn, zu sagen: "Das Schiff durchstößt (oder "erträgt", wenn wir von "fert" ausgehen) Fluten ebenso wie die aufwallende Meeresoberfläche ", denn beides ist mehr oder weniger dasselbe.
Dass beides mehr oder weniger dasselbe aussagt, finde ich nicht so schlimm ... dann nenn ich das Ding eben Hendiadyoin (oder wie würde man das auf Satzebene bezeichnen? Tautologie? Pleonasmus?) und erhebe es zum Stilmittel
Ich habe leider keine Zeit mehr herauszusuchen, ob es bei Ovid noch andere Beispiele gibt, bei denen die Verbindung
pariter - ac/atque keinen Gegensatz beschreibt, sondern zwei sehr ähnliche Dinge verbindet. Vom Bauchgefühl her scheine ich da wohl weniger Schmerzen zu haben als du.
und zweitens bezeichnet aequor im Allgemeinen die glatte, nicht bewegte Oberfläche des Meeres, vgl. Varro L.L. 7,23: Aequor mare appellatum, quod aequatum, cum commotum vento non est.
Das stimmt im Hinblick auf die Herkunft der Bedeutung "Meer" für
aequor, hinderte römische Schriftsteller aber wohl nicht daran, die Bedeutung auch auf das bewegte Meer auszuweiten. Im Eintrag zu
aequor des Georges 1913 steht (
http://www.zeno.org/Georges-1913/A/aequor):
übh. die Meeresfläche, u. so (im Sing. u. Plur.) das Meer (zunächst im ruhigen, ebenen Zustande, dann auch das aufgeregte, sturmbewegte)
(... zusammen mit ein paar Beispielen wie "aequor rapidum" oder "saeva aequora")Ovid selber benutzt im selben Buch das Wort
aequor ja auch im Zusammenhang mit einem unruhigen Meer. Nur ein paar Zeilen weiter unten (1, 10, 11f.) schreibt er:
perque tot euentus et iniquis concita uentis
aequora Palladio numine tuta fuit.Außerdem schreibt er zu den Seestürmen in Gedicht 1, 2 und 1, 4:
me miserum, quanti montes uoluuntur aquarum!
iam iam tacturos sidera summa putes.
quantae diducto subsidunt aequore ualles!
iam iam tacturas Tartara nigra putes.me miserum! quantis increscunt aequora uentis,
erutaque ex imis feruet harena fretis! Und in 1, 11 ist auch noch einmal die Rede vom aufgewühlten
aequor:
cumque sit hibernis agitatum fluctibus aequor,
pectora sunt ipso turbidiora mari.================================
Zwei schwächere Argumente, die man vielleicht gegen
silentia aufbringen könnte:
- wie Zythophilus schon geschrieben hat, ist
atque vor Konsonanten recht selten bei Ovid; wenn es doch vor einem Konsonanten auftaucht, dann sind es sonst immer zweisilbige Wörter, die ihm folgen. Diese Textstelle wäre die einzige Ausnahme dazu, die ich bisher finden konnte (Fasten und Heroiden habe ich wie gesagt noch nicht durchgeschaut). Für
silentia muss man aber auch zwingend
atque lesen.
- im gesamten ersten Buch werden Meere / Gewässer / Wellen und ähnliches entweder gar nicht weiter qualifiziert (wenn es sich um rein geographische Begriffe und Beschreibungen handelt) oder, wenn sie denn irgendwie qualifiziert werden, immer als etwas sehr gefährliches und bedrohliches beschrieben. Wenn man hier
silentia liest, dann wäre das - meine ich (kann mich irren) - die einzige Stelle in Buch 1, in der das Meer mal positiv wegkommt (passt also nicht ganz genau ins Gesamt-Narrativ).