Liebe Lateinfreunde,
es geht um folgende Stelle aus Ovids 2. Buch der Tristien. Dort spricht er Augustus an und appelliert an dessen Gnade (venia/clementia):
vita data est, citraque necem tua constitit ira,
o princeps parce viribus use tuis!
insuper accedunt, te non adimente, paternae,
tamquam vita parum muneris esset, opes.
nec mea decreto damnasti facta senatus,
nec mea selecto iudice iussa fuga est.
tristibus invectus verbis (ita principe dignum)
ultus es offensas, ut decet, ipse tuas.
Also grob übersetzt:
Mir wurde das Leben geschenkt, und vor dem Tod machte dein Zorn Halt,
o Princeps, der du dich sparsam deiner Macht bedient hast!
Hinzu kommt mein väterliches Erbe, das du mir nicht nimmst,
als sei das Leben noch nicht Geschenk genug.
Auch hast du mich nicht durch einen Senatsbeschluss verdammt;
noch wurde meine Verbannung durch einen ausgewählten Richter befohlen.
Indem du mich mit finsteren Worten angegriffen hast (wie es eines Princeps würdig ist)
hast du, wie es sich geziemt, die Kränkungen dir gegenüber selbst gerächt.
Meine Fragen beziehen sich vor allem auf den fett gedruckten Teil.
Zunächst ganz allgemein:
- Ist ein selectus iudex ein Richter, der vom Volk gewählt wird, oder den der Princeps für das Amt auswählt (ich hätte jetzt an zweiteres gedacht)?
Und meine zweite, eigentliche Frage:
Muss man Ovids Worte hier eigentlich als Lob verstehen oder eher als zwischen den Zeilen stehende Kritik? Ich frage das auch, weil ich nicht sicher bin, ob ich das durch meine Brille der Moderne richtig verstehe: Für mich dringt da das Verhalten eines Tyrannen durch, der aus persönlicher Kränkung heraus Ovid des Landes verweist ohne jede rechtsstaatliche Legitimation der Legislative (Senat) oder der Judikative (Richter).
Andererseits kannte Ovid die alte Res Publica Libera ja bestenfalls aus dem Geschichtsunterricht (und selbst da wüsste ich nicht, ob der Consul nicht einfach jemanden ohne Senatsbeschluss hätte verbannen können), deshalb bin ich nicht so sicher, wie ich diesen Hinweis verstehen soll. Zu Augustus' Zeiten konnte man den Senat ja nicht mehr wirklich als eigene Gewalt ansehen.
Hätte Ovid etwa ein größeres Problem gehabt, wenn er nicht auf Beschluss des Augustus hin, sondern legitimiert durch den Senat oder durch einen Richterbeschluss verwiesen worden wäre? Hätte das höhere Hürden für die Aufhebung seiner Relegatio (auf die er ja hier hinarbeitet) bedeutet? Oder steht hier (wie eventuell auch anderen Stellen) eine Art versteckte Kritik an Augustus?