Von Zythophilus, Martin Freundorfer,
finden sich in diesem Forum und anderswo viele lateinische Poeme, dem Poesieliebhaber - man verzeihe die altvorderen Worte - loca amoena für freudige Dialoge mit Antike und Gegenwart.
https://la.wikipedia.org/wiki/Martinus_Zythophilus
http://othes.univie.ac.at/39779/1/2015- ... 803846.pdf
Eines dieser Gedichte, offensichtlich eine „Gelegenheitsarbeit“ zum Allerseelentag im Totenmonat November, wird hier versuchsweise hinsichtlich seiner Struktur, seiner soziokulturellen Einbettung und seinem möglichen Deutungsspielraum untersucht und gewürdigt.
Die Analyse bietet einen Dreischritt:
(1) Annäherung - "Unsterblichkeiten":
religiöse und saekulare Unsterblichkeitsvorstellungen unserer Kultur.
(2) Makrostruktur und Mikrostruktur der Elegie - "poetische Möglichkeiten":
a) Die Elegie als klageoffenes und als klageübergreifendes Genre,
b) dreiteilige Bild- und Gedankenführung
- Memorialkult für Verstorbene,
- Sterblichkeit des Körpers als obligatorisches Merkmal menschlichen Lebens,
- „fides“ als Glaube an ein ewiges Leben der Seele.
c) Kipp-Phänomene in der Litotes „non vana fides“.
(3) Kritische Würdigung - "Verbindlichkeiten":
„Aufhebung“ menschlicher Angst vor dem Tod im christlichen Glauben und in der zeitüberdauernden Kommunikationsgesellschaft der Leser.
Schlüsselworte des Textes finden sich für manchen besonders aufmerksanen Leser im Syntagma „non vana fides“. Es liefert die christliche Botschaft, die - traditionsbeglaubigt - dem Gläubigen ein Leben nach dem Tode ohne Leid und in Seligkeit verspricht. Und mit diesem Syntagma ist auch hier im aktuellen Text die verbindlichste Lesart installiert.
Allerdings bietet der Text genau hier – im „Subtext“ sozusagen - auch ein mögliches Verstehen „gegen den Strich“. Die Litotes lässt sich nicht nur als positive Bestätigung („keinesfalls leerer und nichtiger Glaube, also zuverlässiger Glaube“) ausmachen. Sie kann auch – bei einiger Überlegung und entsprechender Disposition des Lesers und seinem Gefühl für die komplexe Negation - eine eher vorsichtige Behauptung transportieren und erlaubt damit die „skeptische Lesart“: es muss nicht zwingend ein zuverlässiger Glaube vorliegen. Oder der Glaube ist vielleicht kaum zuverlässig und belastbar.
Unabhängig davon, welche Betrachtungsweise man bevorzugt: Die Elegie mit ihren drei Distichen und ihrer Wahrnehmung des Gräberkultes verknüpft sich mit einer besonderen Unsterblichkeitsstrategie, deren Wirksamkeit der Gläubige wie der Skeptiker kaum bezweifeln wird: Ein Gedicht macht seine Bilder und seinen Texter bis zu einem gewissen Grad unsterblich.
Die Anmerkungen streifen drei moderne Texte und ihren Verzicht auf religiöse Komponenten. Und das Vertrauen auf ernste und komische und genrebespielende Patterns (Gernhardt, Brecht, Lindenberg). Eine Anmerkung skizziert den Einsatz des Begriffes „Vanitas“ von der Bibel bis in die Neuzeit. Die Anmerkungen sollten imstande sein, die religiöse Lesart von „non vana fides“ in ihrem Facettenreichtum ansatzweise zu beleuchten.
Die Analyse insgesamt versucht, nun ja, doch, ein wenig dafür zu danken, was die Lektüre von Martins Gedichten dem Leser schenkt.
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(0) Mottos:
„Nun habe ich ein Werk vollendet, das nicht Jupiters Zorn, nicht Flamme noch Schwert noch der Zahn der Zeit wird vernichten können. Mag auch der Tag, der nur über meinen Leib Gewalt hat, meinem ungewissen Dasein früher oder später ein Ende setzen. Mit meinem besseren Teil werde ich mich unsterblich über die hohen Gestirne erheben, unauslöschlich wird mein Name sein, und so weit sich immer Roms Herrschaft über den bezwungenen Erdkreis erstreckt, wird das Volk mich lesen, ja durch alle Jahrhunderte hindurch werde ich, wenn etwas Wahres an den Weissagungen der Seher ist, in meinem Nachruhm weiterleben.“
Ovid
"I paint flowers so they will not die."
Frida Kahlo
„Wer dichtet, der klinkt sich in ein manchmal bereits seit langem laufendes Gespräch ein,
und wer Gedichte liest, der findet sich häufig unversehens im Schnittpunkt
vielfältigster Botschaften und mehr oder weniger verschlüsselter Mitteilungen,
die ihm auch dann zu denken geben können, wenn sie ihm gar nicht zugedacht gewesen waren.“
Robert Gernhardt
"Wer sich wiederfindet, mit der Sonne im Gesicht, der sollte nicht verwundert sein, denn er ist tot und bereits im Elysium. In der Ewigkeit wird man sich eurer Taten hier erinnern!"
Maximus Decimus Meridius
(1) Unsterblichkeiten
Das Dilemma des Menschen, so sagt der Skeptiker, einen Geist zu haben, aber ein Körper zu sein, tritt kaum schmerzlicher und deutlicher zutage als in den Mythen, die uns Unsterblichkeit, die uns ein Leben nach dem Tod, die ewige Seligkeit versprechen. Schmerzlich, weil wir wissen, dass der Körper den sicheren Tod findet. Deutlich, weil der Geist sich dessen bewusst ist, es für unwahrscheinlich hält, dass etwas Geistiges weiterlebt und daher und trotzdem nach Trost sucht, so angestrengt, dass er dabei tatsächlich vergessen kann, was er doch sicher zu wissen meint. Der Tod ist das Ende. Das Ende von Körper und Geist.
In vielen Kulturen nämlich behauptet magisch-religiöses Denken, es gebe Wesen, seien es Götter, seien es vergöttlichte Menschen, die ganz davon befreit sind zu sterben. In einer „minderen“ Form existiert Unsterblichkeit dort, wo Sterben und Totsein gelten, aber der biologische Tod kein Schlusspunkt ist: Der Mensch lebt als Seele oder als beseelter, vielleicht verklärter Leib fort, in einem Totenreich, im Jenseits, im Diesseits.
Und setzt nicht selbst der Skeptiker, der Physikalist und Naturalist, setzt er nicht immer wieder auf Unsterblichkeitsoptionen, wenn auch in einer „Schwundform“? Das Replizieren des genetischen Codes in Liebe und Sexus ist eine Form des Überlebens. Man pflanze sich in Kindern und Kindeskindern fort - der biologische Tod des einzelnen Individuums, so könnte man folgern, er ist kein absolutes Ende.
Anders und ähnlich funktioniert das Replizieren im „Kultur-Gen". Der ruhmreiche Held, sein im Gruppengedächtnis gespeichertes Bild, überlebt den Tod. Das Bild ist in den Memen der jeweiligen Kultur eingelassen, im kulturellen Gedächtnis eines Volkes, und zwar in jenen seltsamen Narrativen der Glückssuche, die wir immer wieder in der Lektüre heraufbeschwören, in den eher magisch-statischen Momenten des lyrischen Liedes, den eher dramatischen Bewegungen des Erzählens.
Und - mit den Texten überleben die Autoren. Als Diener des Nachruhms, als Diener der Unsterblichkeit partizipieren sie an der "Ewigkeit" ihrer Figuren und ihrer Verse. Auch dort, wo sie sich selber vertexten und nicht dem fremden „Helden“ (1) ein Lied singen.
Ein wenig weniger pathetisch: Lyrische Texturen verknüpfen sich mit spiritueller Autorisierung. Allein schon der Rhythmus im hohen Epos, in der Lyrik, vielleicht gestärkt vom Reim und Assonanz, all das arbeitet am Programm des Überlebens und Erinnerns, der poetische Text konserviert seine Sätze. Mittels Wortwahl, Wortnetz, Klang und Rhythmus, das ist seine Magie (2).
(2) Poetische Möglichkeiten
Hier - in dieser langen Traditionskette lyrischer Formen und Themen ist denn auch Zythophilus' Text zu verorten. Eine Elegie. Auf einen Hexameter folgt der sogenannte Pentameter, der allerdings gar nicht aus fünf metrischen Untereinheiten besteht, sondern dirch die zweimalige Aufeinanderfolge des hemiepés, des (nicht ganz) „halben“ Hexameters, gebildet wird, d. h. der metrischen Struktur, die am Anfang der Ilias steht: Mênin áeide theá. Hexameter und Pentameter zusammen bilden das elegische Distichon.
Nun ist uns die Bedeutung von „Elegisch“ bekannt, sie findet sich im Wortfeld der Trauer: Allerdings präsentieren Gedichte in elegischen Distichen eine Themenvielfalt, die nur selten mit Trauer zu tun hat (Schwerpunkte sind u. a. Ermahnung zu tapferem Verhalten im Krieg, Reflexionen mannigfachster, oft existenzieller Art, Behandlung der Geschichte der eigenen Polis). Dennoch findet sich zwischen dem Begriff der Elegie und der Haltung der Klage eine so enge Verbindung, dass z. B. Horaz in der Ars poetica (75 f.) ganz selbstverständlich die querimonia ("Klage") als die von Anfang an bestehende Funktion der Elegie benennt. Und dass antike Etymologie das Wort von einer Klageäußerung è è légein (è è rufen) ableitet.
Aus dieser Begriffsentwicklung ist ersichtlich im mentalen Lexikon die Bedeutung der „Trauer“ abrufbar und im Hintergrund wirksam, wenn wir eine „elegie“ („elegeia", ein Plural, der auf eine Überschreitung der Zwei-Zeilen-Grenze hinweisen kann) lesen. Und wir sind vielleicht gefasst auf so etwas wie "Trauer" und Schmerz. Und auf der deren Auflösung und Trost oder anderes.
Carorum memores petiere sepulcra suorum:
Viuos ad tumulos spesque dolorque uocant.
Omni mors homini rapiet mortalia membra:
Sunt testes tumuli: Sit tibi terra leuis!
Sed non uana fides animas post funera nostras
credere uicturas nos sine lite iubet.
http://www.latein.at/phpBB/viewtopic.php?f=18&t=24557&p=349875#p349875
Zythophilus offeriert in seinem Text drei Distichen. Anfangs eine Situationsbeschreibung: Gräber wurden aufgesucht, die Besucher sind Angehörige der Toten ("suorum"). Ihre Beziehung zu den Verstorbenen ihres Nahfeldes findet sich im Genitiv „carorum“ charakterisiert.
Das zweite Distichon formuliert eine übersituative Beobachtung, eine Art Maxime des Weltwissens und des Wissens um die eigene Endlichkeit und die Endlichkeit aller Menschen: Der Tod wird jedem die sterblichen Glieder nehmen. Bezeugt durch die Grabhügel. Bezeugt durch einen frommen Wunsch, einen Standardwunsch, der seit jeher die Toten begleitet: „Möge dir die Erde leicht sein!“.
Das dritte Distichon weist anders als die vorigen zwei keinen Doppelpunkt mehr auf. Es arbeitet mit der adversativen Konjunktion „sed“ und installiert als Subjekt „fides“.Eine Abweichung, eine Sonderstellung, leise markiert. Semantisch ist "fides" vielschattig: Phänomen des Vertrauens, einer Sicherheit, einer evidenten Vertrauenswürdigkeit mit reziproken Elementen, einer wechselseitigen Verpflichtung, eines belastbaren, wirksamen, überzeugenden Glaubens.
Interessant, dass der Text mit einem latenten lyrischen Ich arbeitet, weitgehend wird über dritte Personen gesprochen. Allerdings findet sich in „sit tibi terra levis“ und in „nostras animas“ eine kollektive Formel, sie erfasst das Individuum, auch das lyrische ich, auch das lyrische Du, eingebunden in den Tod und in den Glauben an ein „lebendiges Danach“ der körperlosen Seelen. Ähnlich übrigens im Subtext die erste Zeile. Sie lässt mit einem weiten Hyperbaton („Carorum...…suorum“) die Toten der Gräber und die Lebendigen des Friedhofbesuchs zu einer Einheit werden.
Der Skeptiker in religiösen Dingen mag hier die Stirne runzeln und sich abwenden wollen: zu simpel ist dieser religiöse Glauben an die Unsterblichkeit der Seelen. Allerdings – ob gewollt oder nicht – im Text ist ein Widerhaken zu finden. In der vorletzten Zeile findet sich das Syntagma „non vana fides“. Ein „nicht unverbindlicher Glaube“, ein “nicht nichtiger Glaube“, ein „kein wertloser, kein illusionärer Glaube“. Er "heißt" (iubet) uns, befiehlt uns, trägt uns auf, an ein zukünftiges Leben ohne Streit – wohl eine Metonymie für Belastendes – zu glauben ("iubet...credere"). Eine Wiederaufnahme und Füllung des Doppels von „spes“ und „dolor“ aus der zweiten Zeile. Mit welchem Recht? Mit welcher Autorität des Befehlens?
Hier ist auf die Deutungsmöglichkeiten der Litotes „non vana fides“ einzugehen. Zweifellos dominiert im Text die christliche, die religiös gestützte Lesart, es sei dieses Leben nach dem Tod gegeben. Damit zusammenhängend der Gedanke der "contemptus mundi". Die Welt sei als untergangsgeweihtes Phänomen, eventuell auch als Ablenkung von den wahren überiridischen Werten und Anlass zur Sünde eben "vanus". So liege eben eine "vanitas mundi" (3)vor. Und die überirdische Welt sei eben kein nichtiges Produkt des Glaubens.
Allerdings lässt vielleicht das „iubet“ stutzen. Wodurch gewinnt dieser Befehl seine scheinbar zweifelsferne Gültigkeit? Stärker als bloße Hoffnung (spes). Geht es um ein „credo, quia creditur et quia credendum est“?
Und dann ist wohl für manchen Leser Seismographie und Sondenführung im Text angesagt.
In der Struktur der Verneinung eines Negativen gibt es seltsame Streueffekte und Grauzonen. Das, was nicht falsch oder nicht schlecht ist, muss nicht selbstverständlich richtig oder gut sein. D. h. über die Litotes wird eine Verunsicherung oder Fragwürdigkeit transportiert, die ‚nicht zuletzt‘ ihre Übersetzung und Definition betrifft. Bezeichnet das griechische λίτóτης so viel wie ‚Schlichtheit‘ oder ‚Einfachheit‘, wird sie in der lateinischen Rhetorik als ‚Abschwächung‘ erfasst, als ‚deminutio‘ in der ‚Rhetorica ad Herennium‘, als ‚imminutio‘ in Ciceros De oratore (3, 206-208).
Allerdings ist in der lateinischen Rhetorik eher nicht Abschwächung intendiert, sondern oftmals Verstärkung. Die doppelte Verneinung im gleichen Satz „bedeutet eine gesteigerte Bejahung“, z. B. „non sum nescius/non ignoro“ – „ich weiß ganz sicher“, „non sine apparatu“ – „mit erheblichem Aufwand“, wobei diese Verstärkung im Lateinischen häufiger ist als etwa im Deutschen (vgl. etwa Rubenbauer, Heine oder Throm).
Dass dem Einsatz der Litotes ein erhebliches, auf Auslegung erst angewiesenes Spektrum zur Verfügung steht, hat schon Carl Weymans frühe Studie über die „Figur der Litotes“ von 1886 reklamiert. Simples Beispiel: ein formelhaftes „nonnumquam“ (nicht niemals) bedeutet eben nicht „immer“, sondern „manchmal“. "Nonnulli" meint nicht "alle", sondern "einige". Und wenn „jemand kein Unmensch ist“, so dürfte er deswegen nicht unbedingt ein „Wohltäter der Menschheit“ sein.
Die Litotes oszilliert zwischen Abschwächung ihres letzten negationsbefreiten Gliedes und Verstärkung ihres letzten negationsbefreiten Gliedes, so dass eine Art Elativ und eine Art Superlativ im Text aufscheinen und mit dem Leser spielen (4): Bei Zythophilus ein keinesfalls nichtiger Glaube, ein wirklichkeitshaltiger Glaube vielmehr
Ein vielleicht wirklichkeitshaltiger Glaube.
Der Skeptiker und der Gläubige können im Text der Elegie aber eine seltsame Unsicherheit lesen, wenn sie sich dem Spiel der Wörter öffnen.
(3) Verbindlichkeiten
Immerhin, hier bleibt gewiss der Anspruch auf eine Art tröstendenden Diskurses. Was ist das für eine Art des Sprechens? Ist sie tragfähig in einer Welt, die aus makroskopischer Perspektive mit Schopenhauer so gesehen werden kann:
"Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt."
Gibt es ein Mehr? Hat die Elegie eine Aussage, die wahr sein könnte?
Offen, mehr als offen die Antwort. Zunächst einmal: Die Sprache erfasst in diesem Gedicht, kaum das, was ist: Die kalte Rinde Schopenhauers passt zur Evolution, zum mitleidlosen Todesstrom, in dem sich die Gene bewegen und der die Gene sind. Dies zu benennen heißt wahre Rede. Die Elegie sperrt sich da. Heißt das, im bloßen Benennen der empirischen Realität liegt - diesseits der Elegie Trostlosigkeit und Trost? Vielleicht.
Ist der Rekurs auf die Sicherheit der „Fides“ und der latent spürbare Zweifel an ihrer Tragfähigkeit zu leugnen, beiseite zu stellen? Liegt in dem Transempirischen doch Tröstendes bereit?
Manchmal glaube ich, solche Texte wie die Elegie von Zythophilus mit ihrem Trost und ihrer latenten Trauer und Unsicherheit heben die Verzweiflung auf, weil sie wissen, dass ein anderer sie liest und dass sie Kürzel sind, Kürzel für gemeinsame Vorstellungen. Manchmal schaffen sie im naturhaften Schema von Vernichtungswettbewerben kontemplative Schutzräume, unterhöhlen den Vulgärdarwinismus und beweisen die Existenz von etwas, das man Empathie und vielleicht auch Mitleid nennen kann. Bewusstsein und Gewissen. Hoffnung und Illusionsverdacht.
Das aber ist ein Argument für die Möglichkeit von wahrer Rede im Gedicht und in der Kunst. Der poetische Stenograph schreibt mit, er erfasst sie, die Stimme des Herzens in der Finsternis. Er fixiert im zynischen Zufall der Lebensgeschichten ein vielfach gebrochenes System des Zusammenhalts, nicht abhängig, aber doch verwandt mit der Welt des Glaubens an den himmlischen Vater. So findet der Elegiker sich in Texturen zuhause und lebt zeitüberdauernd in der Rolle eines musischen Artifex. Samt seinem Mitbewohner auf Zeit, dem Besucher seines Textes.
Ut tumulus poiesis.
Grabmal unsterblicher Hoffnung.
Anmerkungen:
1 Hier sei kurz auf zwei Autoren eingegangen, die in ihren Texten eine Melange von Komik und Ernst anrühren.
Robert Gernhardt etwa freute sich über seine Aufnahme in die Reclam-Bibliothek. Das sei „‚die Fahrkarte zur Unsterblichkeit‘“ und er fühle sich in der klassischen Nachbarschaft zwischen Paul Gerhardt und Goethe gut aufgehoben. Unendlich und endlich komisch sein Gedicht "Ach":
Ach , noch in der letzten Stunde werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe, rufe ich geschwind: Herein!
Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd'n das Kind schon schaukeln
- na, das wäre ja gelacht!
Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?
Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?
Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt's die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall'nes Stück
Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will -
ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon
Robert Gernhardt: . Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006. Frankfurt. Fischer 2009, S..579-580.
Auf eine vertrackte Art komisch und ganz und gar unverächtlich Udo Lindenberg:
Wenn die Nachtigall verstummt, geht ganz Deutschland schwer vermummt,
Um zu trauern, um zu weinen in schwarzen Tüchern und in Leinen.
Wenn die Nachtigall verstummt, geht das ganze Land vermummt
Und oben über den Dächern schwebt ihr allerletzter Song.
Ich seh' die Flaggen schon überall auf Halbmast hängen.
Die Kanzlerin kniet nieder und fängt an zu flennen.
In der Tagesschau ganz eilig, sprechen sie ihn sofort heilig.
Und die Plattenfirma in solchen Zeiten kriegt derbe Lieferschwierigkeiten.
Wenn die Nachtigall verstummt, geht ganz Deutschland schwer vermummt,
Um zu trauern, um zu weinen in schwarzen Tüchern und in Leinen.
Wenn die Nachtigall verstummt, geht das ganze Land vermummt
Und oben über den Dächern schwebt ihr allerletzter Song.
Die Mischung, scheint mir, funktioniert.
Und ebenso der ungemischt hohe Ton in Zythos Elegie.
2) Sie funktioniert selbst dort, wo ein virtuoses Spiel vorliegt, dessen Akteur sich vielleicht all zu sehr selber feiert. So spielt Bert Brecht mit dem Romanzen- und Volksliedton und dem Thema "Erinnerung" in einem berühmten, ironisch-romantischen Liebesgedicht "Erinnerung an die Marie A.", aufgenommen in seiner "Hauspostille":
"An jenem Tag im blauen Mond September/ Still unter einem jungen Pflaumenbaum/ Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe/ In meinem Arm wie einen holden Traum."
Eine postmoderne Virtuosität im Umgang mit tradierten Formaten und dennoch (oder auch deswegen) trägt die Textur und kann ihr Thema nicht demontieren.
3) Allerdings ist diese "vanitas mundi" vor allem, aber nicht nur ein biblisch-christlicher Begriff, er kommt etwa beim Kyniker MONIMOS vor: "Was als existierend angenommen wird, ist alles Dunst" . Von den biblischen Belegen gilt als der wichtigste: "Alles ist Windhauch" (Koh. 1, 2).
Alles Irdische ist eitel
1Dies sind die Reden des Predigers, des Sohnes Davids, des Königs zu Jerusalem. 2Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. 3Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? a 4bEin Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. 5Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, daß sie dort wieder aufgehe. 6Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er anfing. 7Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, dahin sie fließen, fließen sie immer wieder. 8Alles Reden ist so voll cMühe, daß niemand damit zu Ende kommt. dDas Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt. 9Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. 10Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: «Sieh, das ist neu»? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. 11Man gedenkt derer nicht, die früher gewesen sind, und derer, die hernach kommen; man wird auch ihrer nicht gedenken bei denen, die noch später sein werden.
Auch Röm. 8, 20, der wichtigste neutestamentliche Beleg, hat weniger die Schöpfung, den Kosmos, im Blick, sondern den derzeitigen Zustand der Gläubigen und ihre Befreiung daraus am Ende der Zeit:
"Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin, dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes."
Es dominieren allerdings im christlichen Bereich sehr wohl die Schreckensbilder und Abwertungen, auch wenn die Schöpfung Gottes als wertvoll gedacht wird. So etwa "o esca vermium, o massa pulveris, o roris vanitas, cur sic extolleris?" («o Würmerfraß, o Staubmasse, o Eitelkeit des Taus, warum rühmt man dich so?») Bernhard von Cluny De Contemptu Mundi . Jener Bernhard, den Umberto Eco in seinem "Namen der Rose" zitiert und variiert: "Stat Roma [Eco: rosa] pristina nomine, nomina nuda tenemus“
4) Die Negationsstruktur der Litotes zielt auf eine unnegierte, "positive" Denotation. Man vergleiche etwa im klassischen Griechisch diese Charakteristik von Achilles durch Zeus:
"οὔτε γάρ ἐστ’ ἄφρων οὔτ’ ἄσκοπος οὔτ’ ἀλιτήμων,
ἀλλὰ μάλ’ ἐνδυκέως ἱκέτεω πεφιδήσεται ἀνδρός." (Buch 24, 156).
(Er ist ja nicht vernunftlos, noch unbedacht, noch ein Frevler.) Oder hier klassisch-lateinische Belege bei Michael Bradtke, der allerdings die negativen und elativen Valenzen kaum berücksichtigt:
Catull. 13,3 f.: si tecum attuleris bonam atque magnam / cenam, non sine candida puella – wenn du ein gutes und üppiges Mahl nicht ohne ein schönes Mädchen mitbringst. Statt: cum. Cic. S. Rosc. 154: vestrum nemo est, quin intellegat populum Romanum … hoc tempore domestica crudelitate laborare – Es gibt niemanden bei euch, der nicht einsieht, dass das römische Volk … jetzt an Grausamkeit gegenüber seinen eigenen Bürgern krankt. Statt: vestrum quisque intellegat. Mart. 12,88,1: Tongilianus habet nasum: scio, non nego – Tongilianus hat eine Nase: Ich weiß, ich leugne es nicht.
Die Interpretation der Negation kann jedoch vom aktuellen Kontext im Text abhängen, zusätzlich spielt hier auch oft der kulturelle Kontext herein. Auch Intonation und Betonung steuern das Verstehen; so kann beispielsweise das Syntagma "nicht schlecht" unterschiedlich intoniert werden, so dass er entweder "mittelmäßig" oder "ausgezeichnet" bedeutet. In ähnlicher Weise können Negationskomplexe als Euphemismus verwendet werden, um die Härte einer Beobachtung zu verringern; "Er ist nicht die ordentlichste Person, die ich kenne" könnte als Mittel benutzt werden, um anzuzeigen, dass jemand eine chaotische Person ist.
Nicht zu übersehen ist eine andere Funktion doppelter Negationen.
Ich habe keine Zeit nicht.
Das Messer ist kein Spielzeug nicht.
Das sieht kein Mensch nicht ein.
Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß wie heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.
Resi, ich hol´ di´ mit mei´m Traktor ab, mit dem mach´i niemals ned schlapp.Und dann spiel i Mundharmonika, denn romantisch bin i ja a (Wolfgang Fierek).
Aus all diesen doppelten Negationen resultieren keine Affirmationen mit elativer oder superlativischer Färbung, sondern Intensivierungen von Negationshandlungen.