Praeens

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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Mi 15. Aug 2012, 14:28

Viel spätere Wortschöpfungen als ens etc. haben ihren Weg in die Alltagssprachen gefunden, man denke an diverse Erfindungen, durchaus auch komplizierte griechsiche Fremdwörter. Die ebenfalls erwähnte Schöpfung essentia kann im Französischen natürlich als philosphischer Terminus verwendet werden, der normale Franzose nennt aber das, was bei uns "Benzin" heißt, "essence".
In einer romanische Sprache ist außerdem nicht so schwer, lateinische Begriffe zu übernehmen. Wie übersetze ich ens, wenn es das Wort im Italienschen noch nicht gibt? Ich mache einfach "ente" daraus.
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Re: Praeens

Beitragvon marcus03 » Mi 15. Aug 2012, 14:49

"ente" /Ente (war) gut, alles gut ! ?
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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Mi 15. Aug 2012, 15:17

Dort, wo im Lateinischen ens vorkommt, ist es ja trotz der Form kein als solches verwendetes Präsenspartizip, sondern eine Lehnübersetzung des schon substantivierten griech. ὄν. Sich beim Abl. abs. ohne Partizip ein Caesare duce ente vorzustellen, mag hilfreich sein, aber dafür wurde ens nicht verwendet.
Im Italienischen und Spanischen hat "ente" daher auch nie die Funktion eines Präsenspartizips - das Spanische hat gar keine solchen Partizipien -, sondern ist ein Substantiv, das später aus seinem philosophischen Kontext in andere vordringt.
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Mi 15. Aug 2012, 20:54

Ja, schade, dass wir Caesars De Analogia nicht mehr haben - viel ist ja nicht übrig. Trotzdem war Caesar (oder wer auch immer) bei der Einführung von "ens" offensichtlich nicht erfolglos - im Gegenteil: Es wird ja in den romanischen Sprachen immer noch verwendet. Dass es praktisch immer substantiviert auftreten musste, ist klar. Dass es nicht gerade häufig verwendet wurde, ebenfalls - wozu auch?
Bei "potui" fehlt übrigens einfach das f von fui, das bei anderen Composita von esse vorhanden ist, aber fui ist ein anderer Stamm, kann man also nicht einfach mit esse in einen Topf werfen.

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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Mi 15. Aug 2012, 22:14

potui ist ein regelmäßiges Perfekt eines Verbs der e-Konj., von dessen Präsensstamm in klassischer Zeit nur das Präsenspartizip vorkommt. Später muss es wieder aufgetaucht sein, denn das span. "poder" kann nicht direkt von posse stammen.
ens und seine Nachfolger in den romanischen Sprachen etsprechen gerade nicht dem, was der antike Erfinder mit seiner missglückten Einführung von ens erreichen wollte. Der wollte dem Defizit abhelfen und ein als Partizip verwendbares Präsenspartizip von esse zur Verfügung stellen. Diese Form wurde später aufgegriffen, aber lediglich als philosophischer Terminus verwendet. Für das gesprochene und geschriebene Latein abseits philosophischer Texte hatte dieses ens keine Bedeutung.
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Do 16. Aug 2012, 07:42

Zythophilus hat geschrieben:potui ist ein regelmäßiges Perfekt eines Verbs der e-Konj., von dessen Präsensstamm in klassischer Zeit nur das Präsenspartizip vorkommt.

Belege? Wenn dem so wäre, warum tauchen die Präsensformen des fiktiven Verbs "potere" (poteo, potemus etc.) in der Antike nicht auf? Die modernen Infinitive potere/poder etc. in den romanischen Sprachen sind eher durch Analogie entstanden, die italienischen Formen "posso", "possiamo", "possono" etc. zeigen, dass Formen des alten "posse" durchaus in Gebrauch waren und immer noch sind.

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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Do 16. Aug 2012, 08:17

Fest steht, dass das Perfekt von posse nicht vom Stamm esse bzw. fui kommt. Dazu kommt ein Präsenspartizip, das mindestens genau so gut von poteo 2 kommen kann. Wie man in der Antike mit Etymologie verfuhr, ist bekannt, sodass ich auf eine Bemerkung Priscians nicht so viel gebe. Wenn poteo 2 im Präsensstamm nicht verwendet wurde, gibt es keine antiken Belege dafür; erschlossene Formen sind eben manchmal nötig. Außerdem würde ich mich nicht wundern, wenn man auf Formen wie potebam stieße. Das span. Verb "poder" zeigt einen deutlich, dass die Formen von posse zumindest teilweise außer Gebrauch gerieten. "podemos" lässt sich nicht von possumus her erklären.
Wir haben eine Form sons, die durch ihren Bedeutungswechsel, nicht mehr als Präsenspartizip in Frage kommt, wir haben praesens und absens, wir haben den Hinweis, dass ens als künstlich geschaffenes Wort eingeführt werden sollte, wir demnach auch keinen antiken Beleg für eine Verwendung von ens - ganz im Gegenteil -, und wir haben Priscians Beitrag, dass potens so aussieht, als ob ein ens drinnen stecken könnte, was allerdings auf sehr viele Präsenspartizipien zutrifft. Angesichts dieser Hinweise sind schon viele zu dem Schluss gekommen, dass ens eben doch nicht das ursprüngliche Präsenspartizip von esse sein dürfte.
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Re: Praeens

Beitragvon Laptop » Do 16. Aug 2012, 18:44

Es ist bekannt, daß bei den Wörtern, die am häufigsten in Gebrauch sind Lautmaterial und Silben allmählich verschluckt wird, aus Bequemlichkeit bzw. Sprachökonomie. Bei einem so extrem häufigem Wort wie esse oder posse ist es unmöglich, daß es in seiner Ursprungsform geblieben ist. Man kann, wenn man dieser Regel folgt, weiter fragen: welche Formen von esse und posse sind besonders häufig? Antwort: Imperative, Infinitive, Präsensformen. Insbesondere diese müßten verstümmelt sein, und so ist es auch.

Für die 1. Pers. Sg. Präsens Aktiv ist auch die Form ‘esum’ bekannt. Es liegt auf der Hand, daß auch ‘esumus’ und ‘esunt’ existierten. (Ich schrieb zuvor essum, essunt, etc., die Schreibung mit Doppel-s war mein Fehler!)
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Fr 17. Aug 2012, 20:27

Zythophilus hat geschrieben:Fest steht, dass das Perfekt von posse nicht vom Stamm esse bzw. fui kommt.

Noch einmal die Frage: Belege? Was macht uns da so sicher? Ich sehe in der Antike keine eindeutigen Belege für Formen, die sich von dem fiktiven Verb "potere" ableiten. Von "potui" zurückzuschließen, daß es vielleicht irgendwie ein Verb "potere" gegeben haben könnte, ist ein schwaches Indiz.

Zythophilus hat geschrieben:Wir haben eine Form sons, die durch ihren Bedeutungswechsel, nicht mehr als Präsenspartizip in Frage kommt, ...

"sons" hat ja nun mit "esse" nicht direkt etwas zu tun - die eventuellen indogermanischen Verwandtschaften würde ich da mal nicht ernsthaft berücksichtigen.

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Re: Praeens

Beitragvon Laptop » Sa 18. Aug 2012, 01:23

@RM die Wurzel pot* mit t ist wohl unstrittig, denn wie erklärst du dir sonst z. B. das Wort "potiri", oder auch "potis", Georges gibt sogar noch an: altindisch páti-ḥ, Herr, Besitzer, griech. πόσις, πότνια, δεσπότης. Alle drei, posse, potiri, potis sehe ich als verwandt, du nicht? Ich möchte damit nicht behaupten, daß es ein Verb *potere gegeben hat, aber unwahrscheinlich ist es nicht, daß da mal ein ursprüngliches t unter den Tisch gefallen ist.
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Sa 18. Aug 2012, 15:27

Sorry, ich habe gar nicht über die Vorsilbe "pot" und erst recht nicht über das darin enthaltene "t" gesprochen. Unstrittig ist, dass posse=potesse etwas mit esse zu tun hat. Also habe ich wissen wollen, warum man der Meinung sein sollte, dass "potui" von "potere" kommt (obwohl dieses Verb in der Antike nicht belegt ist) und nicht einfach ein verkürztes "pot-fui" darstellt. Und? Irgendwelche Ideen?

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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Sa 18. Aug 2012, 16:11

abs-ens, praes-ens zu postulieren, um ein pot-ens als Präsenspartizip von esse zu rechtfertigen, mag noch nicht so schlimm sein, aber wie ist der Verlust des f aus einem potfui vorzustellen? Wenn die Wahl zwischen einem in der klassischen Antike im Präsensstamm nicht belegten poteo 2 und einem aus potfui entstandenen potui, dem freilich eine Ersatzdehnung fehlt, zugunsten des letzteren ausfällt, dann wirkt das schon mehr wie eine religiöse Überzeugung, die ein original lateinisches von esse stammendes ens als Dogma hat. Dagegen kann man nicht mehr argumentieren.
potare würde mir noch einfallen.
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Sa 18. Aug 2012, 21:19

Zythophilus hat geschrieben:Dagegen kann man nicht mehr argumentieren.

Sorry, ich bin hauptsächlich Naturwissenschaftler und als solcher erwarte ich natürlich, dass ein Beweis etwas stringenter aussieht als solche Argumente. Klar ist, dass, falls das f weggefallen ist, es sehr früh passiert sein muss. Falls es in der Antike gelegentlich ein Verb "potere" gegeben haben sollte, müsste man es ja finden können, sofern man beweisen will, dass "potuit" von "potere" kommt - man findet aber eigentlich nichts, keine Präsensform, keine Imperfektform, keine Futur-Form (außer vielleicht in zwei Inschriften, einer aus der Provinz Numidia, die in der Eichstätter Epigraphik-Datenbank enthalten ist [BCTH-1910-123 = Epigraphica-1975-157 ]: "qui potet melius / faceat " und in ChLA, 43, 1241, rp, 18, 8: "s[i] potetis" - gefunden mit LECTOR 2007 auf PHI7)

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P.S.: praes-ens war übrigens nicht meine Idee, das steht schon im Georges als Vorschlag inkl. Belegstelle zu "praes" - kann man glauben oder auch nicht.
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Re: Praeens

Beitragvon Zythophilus » Sa 18. Aug 2012, 21:36

Die gängige Deutung - spontan habe ich nur diesen Link zur Hand http://books.google.at/books?id=9361tZf ... ie&f=false S. 248s. - sieht sons als Präsenspartizip von esse, das durch seine Einschränkung auf die Bedeutung "schuldig" nicht mehr als Partizip verwendet wurde. Käme potens daher direkt von posse, müsste es analog zu absens eben possens heißen. Ein um die Zeitenwende geschaffenes künstlich geschaffenes ens - dass es vorher nicht existierte, sagen ja sowohl Quintilian und Priscian - lässt sich noch viel weniger Beweis dafür heranzuziehen, dass es kein potere gegeben habe. Den vorhandenen Perfektstamm potui auch noch durch den Verlust des f von potfui wegerklären zu wollen, ist kühn. Dass so etwas möglich ist, würde ich gern anhand eines echten Beispiels bewiesen sein.
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Re: Praeens

Beitragvon RM » Sa 18. Aug 2012, 23:28

Man kann doch in diesem Zusammenhang kaum eine Meinung als Beleg akzeptieren, die etwas widerspiegelt, was vielleicht noch im 5. Jhdt. v. Chr. oder noch früher so gewesen sein mag (echte Belege gibt's ja wohl nicht). Der Römer seit Plautus ist jedenfalls sehr weit davon entfernt, "sons" auch nur ansatzweise als Partizip von esse zu verstehen. Ich selbst würde das Ganze daher eher als Arbeitshypothese auffassen, nicht mehr.
Was ein hypothetisches possens betrifft, wäre es ja nur möglich, wenn "sens" das richtige Partizip von "esse" wäre. Wenn aber unerwarteterweise Quintilian et al. mit "ens" richtig liegen sollte - und er konnte ja ganz gut Latein - dann stehen diese ganzen Hypothesen auf wackligen Füssen. Ganz ehrlich: bei so dürftiger Beweislage ziehe ich es vor, Quintilian zu glauben, der immerhin ein direkterer Augen- und Ohrenzeuge war. Und für "potere" kann ja jemand gerne noch ein paar Belegstellen suchen - ich habe meine schon geliefert. Im Italienischen gibt's zwar "potere" als Infinitiv (aber auch "essere" statt "esse"), aber die Formen stammen zum einem großen Teil immer noch vom alten "posse".

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